Offene Fragen im Leben der Rita Levi Montalcini (1)
Collage aus Splittern
Es waren nicht viele Instrumente, die ich brauchte, um das Programm durchzuführen, und mein Zimmer, das bis zu einem Drittel von einem Bett besetzt war, wurde in ein Labor verwandelt. Vor dem Fenster, das auf den Hof unseres Hauses schaute, stellte ich einen Tisch, darauf das Gehäuse, in dem ich die Hühnerembryonen operieren würde. Zwischen Operationstisch und Bett platzierte ich, auf einem weiteren Tischchen, das teuer erworbene Mikroskop Zeiss für meine histologischen Studien, die ich anhand der entnommenen Embryonen, anhand fixierter und gefärbter Proben betreiben würde. Eine weitere Investition war ein mikrofotografischer Apparat, der es mir ermöglichen sollte, die Proben zu verzeichnen und zu systematisieren. Um die befruchteten Hühnereier zum Reifen zu bringen, brauchte ich außerdem so etwas wie einen Brutkasten und behalf mir mit einem kleinen Heizstrahler.
Was ich hier tue, ist geheim. Es ist verboten und gefährlich. Aber ist es darum schon Widerstand? Ist das mein ganzer Protest? Gewiss, was ich tue, lohnt. Es ist gut für etwas, gut für etwas, das ich weiß. Zugleich ist es gegenläufig, es ist dagegen. Gegen die Faschisten, die etwas dagegen haben. Gegen all jene, die uns hassen und verfolgen. Aber ich bin nicht sicher. Ob es reicht. Ob man nicht offen auftreten muss, um zu zeigen und etwas zu erreichen. Um zu verhindern. Damit das eigene Leben am Ende Wirklichkeit besitzt, jene Wirklichkeit, die alle Unvollkommenheiten aufhebt. Die den Makel löscht.
Der voluminöseste Teil des Labors war der liebe alte Levi, und dazu noch beweglich! Professor Levi war 1941 von Belgien nach Italien zurückgekehrt und schloss sich meinen Forschungen an. Er war sehr groß und massig gebaut und passte kaum in mein winziges Labor. Jedes Mal, wenn er sich umdrehte, stieß er irgendwo an, zum Beispiel an das Bord, auf dem die Embryonen-Proben säuberlich, jedoch etwas ungeschützt, aufgefädelt lagen. „Verzeihen Sie, ich werde besser aufpassen“, brummelte Levi vor sich hin, nachdem er eines Tages eine ganze Serie von Proben zu Fall gebracht und damit zunichte gemacht hatte. Er gab nicht viel auf solche „Arbeitsunfälle“, wie er es nannte.
1941 kann ich mich noch bewegen, kann einkaufen gehen, im Park sitzen und Freunde treffen. Aber abgesehen davon agiere ich illegal. In diesem Staat ist es mir nicht erlaubt, irgendeiner Arbeit nachzugehen, die meiner Profession entspricht. Heimlich suche ich Kranke auf, Kranke, die mich ebenso heimlich rufen, weil sie sich einen richtigen Arzt nicht leisten können. Ich habe Freude daran, durch die verbotene Ausübung meines Berufes etwas für die armen Leute und etwas gegen den Staat zu tun. Doch spätestens dann, wenn es darum geht, ein Rezept auszustellen, ist meine Mission zu Ende. Die Leute müssen zu einem richtigen, einem arischen Arzt gehen, um ein Medikament zu bekommen.
Der Winter und das Frühjahr 1941 vergingen in der Durchführung der Experimente, sie füllten mich absolut aus, sie absorbierten mich. Mit der zunehmenden Verschlechterung der militärischen Situation und der italienischen Niederlage in Afrika, nach der Besetzung Äthiopiens durch die Briten und dem Verlust Ostafrikas, verschärfte sich in Italien die Kampagne gegen die Juden, sie waren der Feind im Inneren, den es zu bekämpfen galt, um sich nach den Misserfolgen außer Landes wieder aufzurichten. Zu den Zeitungsartikeln kamen jetzt Schriften und Manifeste dazu, die in der ganzen Stadt verteilt oder affichiert wurden. Es wurden die Namen von Juden affichiert. Gino, mein Bruder, kam eines Tages nach Hause und rief: „Sie haben mich mit Einstein zusammengetan!“ Wer Jude war, hier und anderswo, berühmt oder unbedeutend, wurde in langen Listen angeprangert und gemeinsam mit den anderen als verachtenswerter Feigling diffamiert. Freilich unterliefen ihnen dabei Fehler und auch Bürger, die Arier waren, gerieten da und dort in die Liste. --- Das Problem, das ich lösen wollte und das alle meine Zeit in Anspruch nahm, von Frühling 1941 bis Herbst 1942, war die Analyse der Wirkung periferer Territorien auf die Differenzierung und weitere Entwicklung beweglicher und sensitiver Nervenzellen im Knochenmark, und das in einem sehr frühen embryonalen Entwicklungsstadium.
Ja, die Menschen haben Angst. Wegen der militärischen Siege der Deutschen an der russischen Front und anderswo und weil Italien an der Seite Deutschlands im Krieg steht, haben sie alle Angst. Die Juden noch mehr, angeprangert und beschimpft dürfen sie keinen Schutz des Staates erwarten, wenn es ernst wird und hart auf hart geht. Doch im Sommer 1941 erstickt die Hitze alle Bewegung im Keim. Ich höre das erste Mal und nur vage von Partisanenkämpfen. Das Wort Partisanen schlägt mir entgegen, es ficht mich an, wühlt mich auf. Wer bin ich?
Im Winter und im Frühjahr 1942 gingen die Forschungen mit unverhofftem Erfolg voran. Das Studium der Zellen und Gewebe anhand der operierten Hühnerembryonen ließ eine Neuinterpretation dessen zu, was Viktor Hamburger in jenem wissenschaftlichen Artikel, dem Ausgangspunkt meiner Hypothesen, ausgeführt hatte. --- Aus der Distanz vieler Jahre habe ich mich oft gefragt, wie wir uns mit einem derartigen Enthusiasmus der Analyse eines kleinen neurobiologischen Problems widmen konnten, während die deutsche Armee fast ganz Europa überschwemmte, Zerstörung und Tod verbreitete, das Überleben der gesamten abendländischen Kultur gefährdete.
Wie konnte ich? Die Antwort liegt in dem verzweifelten und teilweise unbewussten Willen, das, was geschah, zu ignorieren. Das Vollbewusstsein über unsere Lage hätte mich der Möglichkeit beraubt, weiterzuleben, in Würde zu leben. Angst ist ein Begriff, ist Theorie. Die Praxis der Angst zerstört, was du bist. Schnell oder langsam, auf einen Schlag oder Stück für Stück. Du lässt dich jagen. Du duckst dich weg. Wer bist du? Wohin gehst du? Du fragst und fragst. Das Wort Partisanen im Herzen stützte ich mich doch auf nichts als meinen kleinen Labor-Kosmos dort im engen Schlafzimmer einer durchschnittlichen Wohnung in Turin. Wir waren sephardische Juden, wir hatten es kaum gewusst. Unser Vater hatte uns nicht als Juden erzogen.
In der zweiten Hälfte des Jahres 1943 fingen die Bombardierungen an. Bei jedem Alarm nahm ich das binokulare Zeiss-Mikroskop und andere wertvolle Teile der Laborausstattung in den Luftschutzkeller mit, ich wusste, dass sich der Aufenthalt dort wieder über Stunden hinziehen würde. Wir warteten, die Frauen stimmten immer wieder ihre Gebete an, schließlich ertönte die Sirene, die Gefahr war vorüber. Oft erreichten wir gerade die Wohnungstür, als die Sirenen erneut aufheulten und uns zurück in den Keller trieben. --- Im Herbst mieteten wir ein Haus auf dem Land, eine Fahrtstunde von Turin entfernt. Dort würden wir sicherer sein. In einer Ecke des Wohnzimmers baute ich mein Labor wieder auf. Die Eier für meine Experimente holte ich bei den Bauern der Umgebung, ich operierte die Embryonen am 5. Tag ihrer Einnistung heraus, dann brachte ich das Ei in die Küche, wo es zur Eierspeise verarbeitet wurde.
Meine Forschungen erhalten mich am Leben. So bleibe ich in mir drin. Ich arbeite und fühle mich frei, frei von Sorge. Ich habe keine Angst. All die Jahre nicht, nie. Was mir das Recht gibt, meine Nächte ohne Panikattacken zu verbringen, ich weiß es nicht. Ich habe nicht einmal schlechte Träume. Manchmal fahre ich sogar nach Turin, um mir die Zerstörungen anzuschauen. Ich treffe Levi und einige Freunde, wir reden, essen Polenta und erwärmen uns beim Ofen in der Küche. Was mir das Recht gibt, mich im Luftschutzkeller bloß zu langweilen und an meinen Arbeitsplatz zurückzusehnen, ich weiß es nicht. Um mich herum stoße ich oft auf große Angst. Gino isst die Eier nicht, die ich zuvor operiert habe, er graust sich vor dem experimentellen Gehalt unseres Abendessens, er zieht es vor zu hungern.
Ungeachtet der erschwerten Umstände – es war nicht leicht, befruchtete Eier zu bekommen, außerdem fiel der Strom immerzu aus, was meinen Heizstrahler außer Kraft setzte – brachte ich in jenem Landhaus einige Forschungen zu Ende, Forschungen, die ich einige Jahre später in Amerika wieder aufgreifen würde.--- Ich beobachtete Stunde für Stunde, in verschiedenen Exemplaren, wie in einer cinematographischen Sequenz, die Entwicklung der Nervenzentren und Nervengewebe, ich verfolgte im Detail die Dynamik der ablaufenden Prozesse.--- Mit dem Fahrrad fuhr ich von einem Hügel zum anderen und bettelte die Bauern um Eier an, „für meine Kinder“, log ich, nicht ohne mich vorher zu erkundigen, ob es im Stall auch einen Hahn gab. “Die befruchteten Eier sind nahrhafter“, erklärte ich den Bauern.
Eine Antwort. Heute kann ich sie mir geben, aber damals wusste ich nichts. Ich kämpfte vor mich hin, ich forschte, ich blieb in mir drin, ich blieb nicht nur am Leben, ich blieb auch psychisch intakt. Es ging mir trotz allem gut. Eben weil ich nichts wusste, kämpfte ich nie wirklich, nicht bei den Partisanen draußen. Der Grund liegt auf der Hand. Oder im Ei, dem Symbol für Leben. In den Eiern, deren Wachstum ich beobachtete. Doch man kann das Richtige tun und trotzdem unvollkommen sein. Es war die nicht gefühlte Angst, die mich antrieb. Es war der nicht gefühlte Trotz, der mich dazu brachte, das Verbotene zu verfolgen, über alle Schwierigkeiten hinweg. Mein Tun erschien mir gegenläufig und widerständig zu sein, dabei war es nur geradlinig und logisch. Hätte ich wohl da draußen gekämpft, wenn ich die Angst und den Trotz gespürt hätte?
Die deutschen Truppen verbreiteten sich innerhalb weniger Stunden über die ganze Po-Ebene. Ich erinnere mich noch mit Schaudern an die bewaffneten Wagen und Panzer rund um den Bahnhof von Turin. Die Menschenmenge verhielt sich dumpf und still, während die deutschen Soldaten das Kommando über den städtischen Verkehr übernahmen. Wir wussten, dass eine Verzögerung weniger Tage, vielleicht weniger Stunden, unseren Tod bedeuten konnte. Es gab drei Möglichkeiten, alle drei waren voller Gefahren: Sich in ein Dorf im hinteren Piemont zurückzuziehen, in die Schweiz zu fliehen oder Richtung Süden zu fahren in der Hoffnung auf eine baldige Befreiung Italiens durch die Amerikaner. --- Wir wanderten in den Süden aus. Die Züge fuhren und kamen mittlerweile ohne jede fahrplanmäßige Ordnung und waren völlig überfüllt. Wir alle hatten Identitätskarten, die, abgesehen von den Angaben zu Geschlecht und Alter, nichts mit der Realität zu tun hatten. Das Ziel unserer Reise entschied sich zufällig. Ich kam im Zug gegenüber einem meiner alten Schulkollegen zu sitzen, er erkannte mich und fragte, wo wir hin wollten. Seine Uniform eines Faschisten und seine Fragerei brachten mich so in Verlegenheit, dass ich sagte, wir wüssten es selbst nicht. Wir hätten den Zug verwechselt und müssten bei der nächsten Haltestelle aussteigen. Das mussten wir dann auch tun, unter den Augen meines alten Schulkollegen. So landeten wir in Santa Maria Novella, Florenz.
(1) Die kursiv gesetzten Textteile sind Übersetzungen aus der Autobiografie von Rita Levi-Montalcini “Elogio dell` imperfezione“/“Ein Lob der Unvollkommenheit“ (Garzanti Libri 1990). In ihrem Buch erwähnt die Autorin, dass sie es im Rückblick bedauert, sich während des Krieges nicht den Partisanen angeschlossen und gegen die Faschisten gekämpft zu haben. Die italienische Nobelpreisträgerin Rita Levi Montalcini ist im vergangenen Jahr 100 Jahre alt geworden. Sie stammt aus einer sephardischen Familie und wurde als Jüdin im faschistischen Italien verfolgt. Zwischen 1943 und 1945 lebte sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern illegal in Florenz. Nach dem Krieg ging die ausgebildete Ärztin und Mikrobiologin nach Amerika, um zu forschen und zu lehren. Für ihre Entdeckung des Nervenwachstumsfaktors (NGF) erhielt sie 1986 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie. Trotz ihres hohen Alters arbeitet sie noch heute und tritt als überzeugte Demokratin gegen soziales und politisches Unrecht öffentlich auf.